Zur alljährlichen Herbsttagung trafen sich am 11.11.2022 in Ibis Styles Linz Mitglieder des Verbandes Hörakustiker Österreichs. Das Vorstandsteam rund um den Präsidenten Ing. Thomas Aigner hatten ein interessantes Programm zusammengestellt, um den anwesenden Hörakustikern ein buntes Portfolio an Themen zu bieten. Aufgrund enger Terminpläne wurden zwei Vortragende live aus Dänemark und Hamburg zugeschaltet.
Sonova – Stäfa (Schweiz)
Der erste Vortrag wurde von Dr. Matthias Latzel gehalten. Herr Dr. Latzel berichtete über die modernen Algorithmen in Hörsystemen in typischen Alltagssituationen. Mit zunehmender Entfernung und veränderter Richtung einer Sprachquelle zum Zuhörer verändert sich auch das Sprachsignal frequenz– und pegelspezifisch. Wie ein moderner HG–Algorithmus auf diese räumlich bedingten Änderungen eingeht, das wird in dieser Präsentation anhand von zwei typischen Hörsituationen erklärt.
Situation #1: Ein HG–Träger unterhält sich angeregt mit seinem Gegenüber. Ein Kellner tritt an den Tisch und möchte die Bestellung aufnehmen. Hörgeräte sind heute – bis auf einige wenige Ausnahmen – mit Mikrofonen ausgestattet, die unterschiedliche Richtwirkungen realisieren können. Solche Systeme werden im Allgemeinen in einem Labor verifiziert, in dem die relevante Sprachquelle bei 0° angeordnet ist und das Störgeräusch aus mehreren Störgeräuschquellen aus unterschiedlichen Richtungen kommt. Dieses Setup ist so definiert, damit es eine Hörsituation simuliert, bei der der HG–Träger dem Sprecher genau gegenübersitzt. In diesem Setup ist ein Beamformer mit einer sehr starken Richtcharakteristik nach vorne besonders vorteilhaft, was in vielen Studien nachgewiesen werden konnte. Solche Mikrofonsystem haben allerdings auch erheblich Nachteile, insbesondere wenn Geräusche lokalisiert werden müssen, die seitlich oder hinter dem HG–Träger auftreten. Deshalb wurde ein Algorithmus entwickelt und in der neuen HG–Plattform Lumity der Firma Phonak umgesetzt, der Signale, die seitlich oder hinter dem HG–Träger auftreten, hervorhebt.
Zur Untersuchung des Algorithmus wurde im Labor ein realistisches Setup aufgebaut, in dem sich die Quelle entweder seitlich oder hinter dem HG–Träger befindet. Im ersten Teil des Vortrages wird eine Studie vorgestellt, in der eine typische Alltagsituation simuliert wird, bei der sich der Zielsprecher nicht direkt gegenüber dem HG–Träger befindet, wie zum Beispiel in einem Restaurant, wenn der HG–Träger seitlich von einem Kellner angesprochen wird.
Situation#2: Ein HG–Träger unterhält sich mit seiner Frau, während er im Wohnzimmer sitzt und die Zeitung liest und seine Frau in der Küche das Essen vorbereitet. Das ist eine typische Situation, die von bisherigen Hörgerätetechnologien nur sehr bedingt unterstützt worden sind. Natürlich hilft hier die normal Dynamik–Kompression, die leise Eingangspegel deutlich verstärkt. Das ist aber häufig nur in der Theorie so, da die Kompressionsraten im Allgemeinen relativ gering sind und deswegen das Verstehen von entfernten Sprechern noch immer ein großes Problem für die HG–Träger darstellt. Aus diesem Grund wurde ein HG–Algorithmus entwickelt und in der HG–Plattform Lumity implementiert, der
besonders leise Sprache hervorhebt. Auch für die Überprüfung dieses Algorithmus wurde eine realitätsnahe Situation im Labor aufgebaut. Einmal handelte es sich um Sprecher, die zwischen 2 m und 8m vom HG–Träger entfernt waren und mit mittlerer Lautstärke sprachen oder um einen Sprecher, der sich in einem Nebenraum zum HG–Träger bei angelehnter Tür aufhielt. Im zweiten Teil des Vortrages wird eine Studie vorgestellt, in der eine typische Alltagssituation simuliert wird, bei der sich der Zielsprecher in einem Nebenraum befindet, wie zum Beispiel zuhause, wenn der HG–Träger im Wohnzimmer sitzt und sich mit seiner Frau in der Küche unterhält.
Widex Hörgeräte GmbH – Stuttgart (Deutschland)
Der zweite Vortrag wurde von Simon Müller M.Sc. gehalten und beschäftigt sich mit dem Einfluss der Filterbank-Signalverarbeitung auf die Klangqualität in Hörsystemen. Aufgrund eines sehr engen Terminplanes wurde Herr Müller direkt aus Dänemark online zugeschaltet.
Die prinzipielle Signalverarbeitung in Hörsystemen ähnelt sich in ihrem Ablauf: So wird das Signal in den Eingangsstufen durch den A/D–Wandler von einem analogen in ein digitales Signal übertragen, bevor eine Analyse–Filterbank dieses Signal in mehrere Frequenzbänder aufteilt. Die nachfolgende Signalverarbeitung kann sich in Hörsystemen maßgeblich über die Auswahl der zugrundeliegenden Filterbank–Technologie voneinander unterscheiden. So verfügen Frequenzbereichsfilterbank und Zeitbereichsfilterbank über verschiedene Eigenschaften und damit unterschiedliche Verarbeitungs–Philosophien. Ein Merkmal von Zeitbereichsfilterbanken ist die unterschiedlich groß gestaltete Bandbreite einzelner Frequenzbänder. Dieses Konzept eignet sich zur Nachbildung der natürlichen Filterbänke der Cochlea (Balling et al., 2022). Nebst der Abstimmung zwischen temporaler und spektraler Auflösung werden auch um das 10–fache geringere Durchlaufzeiten ermöglicht (Balling et al., 2020).
In Vent–Anpassungen hat die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Hörsystemen einen Einfluss auf deren Klangqualität. Denn bei nahezu zeitgleichem Eintreffen von Hörsystem–Verstärkung und Direktschall kann der sogenannte Kammfiltereffekt nicht entstehen (Balling et al., 2020). Die Untersuchungen von Balling et al. (2020) stellten fest, dass der durch eine beschleunigte Durchlaufzeit (< 1 ms) bereitgestellte Klang in unterschiedlichen realen Hörsituationen bevorzugt wurde und zu einer verbesserten räumlichen Wahrnehmung führte (Kuk et al., 2022). Unterstützt werden diese Erkenntnisse durch eine robustere Bewahrung der neuronalen Kodierung der Signaleinhüllenden, insbesondere der Grundfrequenz (Slugocki et al., 2020). Dies sind wichtige Argumente für eine Filterbank–Wahl und die damit verknüpften klangqualitativen Eigenschaften eines Hörsystems.
GN Hearing Austria GmbH, Wien (Österreich)
Klemens Zimmermann blickte in seinem Vortrag „Der Hörgerätemarkt im Wandel“ ein wenig in die Zukunft. Laut jüngsten Zahlen tragen in Mitteleuropa 41% der Erwachsenen, die sich selbst einen Hörverlust eingestehen, Hörgeräte. Die Hürden und Hindernisse sind vielfältig und uns großteils aus unserem Akustiker– Alltag durchaus bekannt. Um Hörbeeinträchtigten in den USA, mit einer Hörgerätedurchdringung von unter 30%, den Zugang zu Hörgeräten zu erleichtern, können wir unterschiedliche Tendenzen sehen. Könnten diese Ansätze in Europa auch zielführend sein? Aus diesem Grund hat der Konzern GN, zu dem auch Jabra gehört, ein Produkt auch in Europa der GN Hearing Sparte zur Verfügung gestellt, welches als OTC (over-the-counter) – System angeboten wird. Es handelt sich um eine Art Hearable, mit der Möglichkeit u.a. auch Sprachanteile anzuheben. Es wird mit Standard-Stöpsel und einer Ladestation ausgeliefert. Die Tragezeit ist aber weit unter der einen individuell angepassten Im-Ohr-Akku-System von ReSound.
Tinnituszentrum Dr. Johannes Schobel & Partner, St. Pölten (Österreich)
Kurz vor der Mittagspause trat Dr. Johannes Schobel aus St. Pölten vor das Auditorium, um den Hörakustikern seine Erfahrungen bei Tinnitus-Patienten die mit Hörsystemen versorgt worden sind zu teilen. Die wichtigste und häufigste organische Tinnitus–Ursache ist ein geringer Hochton–Abfall, der nicht einmal die Hörgeräte–Indikationskriterien erfüllen muss, um einen Tinnitus auszulösen. Die heutigen modernen Hörsysteme mit dem im Bedarfsfall zu aktivierenden Noiser müssen allerdings anders angepasst werden als für den „nur“ schwer hörenden Patienten. Die in der Software hinterlegten Anpassformeln sind für den erfolgreichen Einsatz der Geräte gegen Tinnitus meist völlig unzureichend. Auch bei
der Gestaltung der Otoplastik gelten völlig andere Gesetze als sie von der Akustik her bekannt sind. Moderne Hörsysteme sind, wenn sie speziell programmiert und im Bereich der Otoplastik richtig modifiziert sind, die wichtigste und wirkungsvollste Waffe gegen Tinnitus, die uns zur Verfügung steht.
AS Audio–Service GmbH, Löhne (Deutschland)
Gestärkt ging es nach der Mittagspause in den Vortrag von Michael Luikenga. Er beleuchtete auf sehr humorvolle, aber auch ernste Weise, die Arbeit des Hörakustikers heute und in der Zukunft. Die Beratung und Anamnese in der Hörakustik beruht auf einer knapp 50 Jahre alten Gesprächskultur.
Diese gilt es langsam zu verändern, aus Kunden werden Nutzer der Hörsysteme, die ganze Technik ist in einem Beratungsgespräch nicht mehr zu erklären. Ist die Anamnese noch zeitgemäß? Der Vortrag zielt darauf ab, dass der Hörakustiker eher zum Coach des Kunden werden soll und nicht als der typische Verkäufer. Mit gezielten Fragestellungen und Einbindung des Kunden in die Auswahl seines HÖR-Systems ist die Arbeit mit und am Kunden um einiges leichter und muss in der Zukunft auch erfolgen. Der Kunde ändert sich jetzt schon, daher ist auch der Wandel des Hörakustikers in der Beratung von großer Wichtigkeit. Eine Idee ist z.B. dem Kunden Testgeräte mitzugeben, damit der Hörakusktiker mittels des Dataloggings die „Hörwelt“ des Kunden kennenlernen kann, um dann gezielt zu beraten.
Starkey Laboratories (Germany) GmbH, Hamburg (Deutschland)
Florian Heyn wurde online dem Auditorium zugeschaltet und berichtet über Sensoren und künstlicher Intelligenz in Hörsystem und deren Nutzen. Als besonderes Feature wurde der Edge Modus vorgestellt, der in der neuen Chiptechnologie verbaut ist. Der Edge Modus kann vom Hörsystemträger jederzeit mittels App zugeschaltet werden. Der Edge Modus unterstützt das Sprachverstehen in geräuschvoller Umgebung und nutzt die bereits vergangenen 8-10 Sekunden vor dem Aktivieren des Modus, um die Situation zu analysieren. Basierend auf dieser Analyse werden weitere Features angepasst, um das Sprachverstehen zu verbessern. Sollte der Kunden damit nicht zufrieden sein, deaktiviert er den Modus und kann ihn jederzeit wieder aktivieren, da sich die Hörsituation zeitnah wieder geändert hat. Weiterhin sind in den neuen Starkey Systemen die bereits bekannten Sturzsensoren verbaut, die einem hinterlegten Notfallkontakt eine SMS schickt und diesen über den Sturz informiert. Der Notfallkontakt kann umgehend die Hilfekette in Gang bringen. Der Hörsystemträger bekommt auch eine Rückmeldung, dass die Hilfe angefordert wurde und unterwegs ist.
MED–EL Medical Electronics, Wien (Österreich)
Zum Abschuss der Herbsttagung stellte Fabian Kiesenhofer DI (FH), die zur Zeit gängigen Knochenleitungssysteme vor, die derzeit im Hause MED-EL angeboten werden. MED-EL bietet in seinem Portfolio an Hörlösungen zwei Arten an Knochenleitungssystemen an. Die BONEBRIDGE, ein transkutanes aktives Knochenleitungsimplantat und ADHEAR, ein Knochenleitungshörgerät. Die BONEBRIDGE kann bei Schalleitungshörverlust, kombiniertem Hörverlust sowie einseitiger Ertaubung angewendet werden. Beim ADHEAR, einer nicht-chirurgischen Option, liegt die Indikation primär bei einem Schallleitungshörverlust. Hierbei wird die vibratorische Stimulation über einen Klebeadapter auf der Haut an den Knochen abgegeben. In Österreich werden Patienten seit 2017 über die Hörgeräteakustiker mit ADHEAR versorgt.